Fahrbericht Kawasaki VN 800

-- WICHTIGES AN DIESER STELLE --

Stammtische: KawasakiS NRW 04. od. 18.05.2024 im Bergischen (inkl. Tour)

  • Fahrbericht
    Kawasaki VN 800 - Schöne Schwestern



    Aus bma 04/97


    Von Holger Temmen


    Dem Vernehmen nach soll ein bekannter amerikanischer Motorradhersteller Kawasaki wegen der Ähnlichkeit der VN 800 mit hauseigenen Produkten verklagt haben. Ist irgendwie verständlich, denn die Zwillinge VN 800 und VN 800 Classic sind unglaublich freche, aber sehr gelungene Plagiate der Softail-Modelle eben dieses Herstellers. Selten gelang es den Japanern, das vorgegebene Design so stilsicher umzusetzen.


    Die Erstgeborene, die „normale” VN 800, kommt mit einem 21 Zoll Vorderrad samt kleinem Schutzblech und choppertypisch flachem Lenkkopfwinkel mit einem Nachlauf von 149 mm daher, im Gegensatz zur VN 800 Classic, die mit einem relativ geringen Nachlauf von 122 mm und 16 Zoll Vorderrad samt drallem Kotflügel auftritt; außerdem bringt sie bei einem Lebendgewicht von 235 kg 20 Pfund mehr auf die Waage. Dafür kostet sie auch gut 1,2 Tausender mehr als ihre Schwester, die mit 14.290,- DM in der Liste steht (nebenbei bemerkt: zur Zeit läuft eine Sonderaktion für '96er Modelle). Ein zusätzlicher Kontrast ist die Hinterradabdeckung. Die Classic setzt auf einen weit herumgezogenen runden Kotflügel, wobei der gehaßte Spritzschutzlappen kein Problem mehr darstellt; ihre Schwester verfügt über einen flachen „Fat Bob-Fender”, der nach oben mit in kühnem Schwung in ein kleines Bürzel ausläuft.


    Nun ist die Optik nur ein - wenn auch wesentlicher - Teil eines Motorrades. Was haben die VNs sonst zu bieten? Technisch sind sie, bis auf die genannten Unterschiede, identisch. Der normal bleifrei befeuerte V2 mit 8 Ventilen und einem Zylinderwinkel von 45 Grad drückt 55 PS (50 oder 34 PS möglich) sowie ein maximales Drehmoment von 64 Nm auf's 140er Hinterrad. Beatmet werden die 805 ccm durch einen Keihin-Vergaser mit nur 36 mm Durchlaß, was dem „Bums aus dem Keller” enorm entgegenkommt. Für angenehme Temperaturen sorgt ein Wasserkühler mit zusätzlichem Lüfter. Der Doppelschleifen-Stahlrohr-Rahmen ruht vorne auf einer konventionellen Telegabel mit Standrohren von 41 mm Durchmesser und hinten auf dem bekannten Uni Trak-Federsystem. Als Anker dienen im Bug eine Einscheibenbremse (300 mm Durchmesser) samt einer mechanischen Trommel (180 mm) im Heck. Bei maximaler Zuladung von vier Zentnern sollte der Tankinhalt von 15 Litern für circa 250 Kilometer Strecke ausreichen.


    Interessantes Detail: die Abgasreinigung „Kawasaki Clean-Air-System” der '97er Modelle sorgt für die Unterschreitung der geplanten EU-Abgaswerte EURO 1. Hierbei wird durch ein im Zylinderkopf eingebautes Ventil Frischluft unmittelbar hinter die Auslaßventile in den Abgaskanal gesaugt. Die dadurch entstehende Nachverbrennung reduziert die Schadstoffe um bis zu 50%. Es geht also auch ohne Kat. Soviel einstweilen zur Theorie.


    Die wichtigste Frage ist natürlich: wie fahren sich die Schönlinge? Unsere Testmaschine vom Kawasaki-Vertragshändler Martin Brandt aus Hamburg ist eine Classic. Beim Platznehmen auf dem recht breiten und straff gepolsterten Sattel fühlen sich sogar Neu- und Wiedereinsteiger dank der geringen Sitzhöhe von 725mm sofort wohl. Der breite Lenker zuzüglich der nicht zu weit vorne positionierten Fußrasten tun ihres dazu, um zumindest im Stand eine komfortable Sitzposition zu finden. Seitenständer einklappen und los. Hauptständer gibt's selbstredend nicht, dafür ein praktisches Helmschloß vorn links am Rahmen. Vor dem Starten muß das konventionelle Lenkerschloß aufgeschlossen und der Zündschlüssel in das links unten hinter dem Zylinder befindliche Zündschloß eingefädelt sowie der direkt darüber befindliche Choke gezogen werden. Nicht ergonomisch? Nö, aber original(!) und irgendwie cool. Dem problemlosen Kaltstart schließt sich eine recht lange Warmlaufphase an. Gerade wenn man, wie eigentlich immer empfohlen, recht bald den Choke herausnimmt, sollte man langsam Gas geben, ansonsten verschluckt sich der Vergaser und der Motor stirbt ab.


    Peinlich vor der Eisdiele, gefährlich auf der Kreuzung. Bringt man die Fuhre in Schwung, fällt zuerst die geringe Handkraft auf, mit der die Kupplung bedient werden will. Da macht es im Grunde nichts, daß der Hebel nicht verstellbar ist. Die Schaltung glänzt durch sehr kurze Wege und ist ebenfalls mit sehr geringer Kraft bedienbar; die Position des Schalthebels ist verstellbar. Das gilt genauso für den Fußbremshebel, der trotzdem meist im Weg ist, außer, wenn man gerade mal bremsen will. Da muß der Fuß von der Raste genommen und auf das Pedal gesetzt werden. Aber wer bremst noch hinten? Dazu später mehr. Erstmal durch den Stadtverkehr und raus auf's Land.


    Dank des niedrigen Schwerpunkts fällt die Schleichfahrt von Ampel zu Ampel nicht zu kippelig aus, außerdem macht Schalten mit der VN richtig Spaß. Ist aber nicht unbedingt nötig, der dritte oder vierte Gang ist aufgrund des schon bei 3300 U/min anliegenden Maximaldrehmomentes innerorts immer richtig. Auf der Verbindungsetappe zur Lüneburger Heide über die Autobahn merkt man dann schnell, warum Chopper hierfür nicht taugen. Die VN macht da keine Ausnahme: bei hohen Geschwindigkeiten kommt schnell Unruhe ins Fahrwerk. Das liegt jedoch nicht an der Maschine, die hat einen regelrecht stoischen Geradeauslauf. Es sind die Arme des Fahrers, die nach längerer Fahrt über 120 km/h bei stürmischem Gegenwind den Dienst versagen.


    Endlich auf der Landstraße. Plötzlich fällt auf, daß schon die ganze Zeit etwas fehlt: Vibrationen! Weder im Sitzfleisch noch im Lenker ist der V2 fühlbar. Nur ganz feines, aber nicht störendes Zittern kommt bei bestimmten Drehzahlen an der Kupplungshand an. Als erfahrener V-Twin-Treiber fragt man sich unweigerlich: wie haben die das gemacht? Denn beide „Zerknalltreiblinge” wirken bei einem Zylinderwinkel von 55 Grad auf nur einen Hubzapfen. Drei kleine Helferlein arbeiten hier zusammen: eine saubere Abstimmung aller Motorkomponenten, die Lagerung des Treibsatzes in Gummi und eine zahnradgetriebene Ausgleichswelle.


    Der einbiegende Traktor läßt den Gedankenstrom jäh abreißen. Bremse durchziehen, Gabel taucht auf den Block, der Lenker verreißt leicht nach rechts. Uff, der Einzelstopper wirkt zwar absolut ausreichend, aber die Reaktionen in der Vorderhand verlangen selbst in Gefahrsituationen nach einem sensiblen Händchen. Die Trommel hinten bremst wohl mit, zur merklichen Verzögerung oder gar zum Blockieren reicht es gleichwohl nicht. Mag am geringen Kilometerstand liegen, vielleicht muß sich die Bremse erst noch einschleifen. Obwohl die Gabel diese Reaktionen an den Tag legt, reagiert sie im Fahrbetrieb relativ hart. Noch härter ist allerdings das Federbein. Da beim Chopper ja das größte Gewicht auf der Hinterhand liegt und die Federwege kurz sind, kommt dem besondere Bedeutung zu. Sämtliche Fahrbahnstöße werden ungefiltert an den Solofahrer weitergegeben. Für den Zweimannbetrieb ist diese Abstimmung dagegen okay.


    Der Kawasaki-Prospekt verheißt nun eine in der Vorspannung verstellbare Feder, also wird die Zigarrettenpause dazu genutzt, das Einstellrad zu suchen. Dabei kommen hinter zwei seitlichen, mit dem Zündschlüssel aufschließbaren Klappen ein billiges aber brauchbares Bordwerkzeug und eine fummelige Abdeckung eines ordentlichen Staufachs gleich über dem Auspuff (Vorsicht Finger!) zum Vorschein. Wo ist das Einstellrad? Unter dem Federbein? Nein. Tatsächlich gibt die Betriebsanleitung zum Einstellen der Federung einen Hinweis: „Wenn die Federwirkung zu hart oder zu weich erscheint, bei einer Vertragswerkstatt einstellen lassen”. Nachfragen bei Martin Brandt bestätigten dies. Das Federbein muß für die Verstellung zerlegt werden. Möglicherweise tut es erstmal ein Kissen für den Po?


    Dennoch oder genau deshalb taugt die VN richtig zum Kurvenräubern. Gerade die Classic mit ihrem recht geringen Nachlauf läßt sich trotz des guten Geradeauslaufes schnell und zielsicher auch durch enge Kehren zirkeln. Insgesamt ein gelungener Kompromiß aus Komfort und Handling. Wenn man bloß keine Bandscheiben hätte, denn mit zunehmender Fahrdauer macht dieses Motorrad immer mehr Spaß.
    Der Motor hängt als Kurzhuber (88 x 66,2 mm) gut am Gas und dreht erstaunlich schnell hoch, und bei den wechselnden Geschwindigkeiten auf dem Lande haben die Arme zwischendurch Zeit, sich zu erholen. Alle Schalter sind behandschuht sicher bedienbar, die Spiegel zeigen ohne Zittern, was hinter dem Chopper passiert, der Tacho auf dem Tank ist mit den großen Kontrolleuchten gut ablesbar. Einzig die Neutral-Anzeige und die Fernlichtkontrollampe sind, da sehr schwach und im Tacho integriert, kaum zu erkennen. Der Leerlauf kann aber trotzdem nicht verfehlt werden, da Kawasaki einen positiven Leerlaufauffinder eingebaut hat. Watt is datt denn? „Wenn das Motorrad steht, kann das Getriebe aus dem ersten Gange nicht an der Leerlaufstellung vorbeigeschaltet werden”. Ah ja. Anhalten, in den Ersten runter und den Hebel wieder hoch. So klappt's. Übrigens geht mit dicken Stiefeln bei den kurzen Schaltwegen schon 'mal das Gefühl verloren. Beim Runterschalten passierte es ein paarmal, daß der Gang drinnenblieb und die Kurve ein wenig untertourig gefahren wurde.


    Zeit für ein Resümee auf dem Nachhauseweg. Kawasaki bietet mit den VNs hochwertig verarbeitete und durchdachte Maschinen ohne gravierende Nachteile. An die aufgezeigten Detailmängel muß man sich nicht lange gewöhnen, sie sind nicht von entscheidender Bedeutung. Allein eine von Hand verstellbare Federvorspannung des Uni-Trak-Systems sollten sich die Kawa-Kaufleute schönrechnen, was bei dem im Vergleich zur Konkurrenz verhältnismäßig hohen Preis eigentlich kein Problem sein dürfte. Wer über's Land choppern will, keine Lust auf Dauerhöchstgeschwindigkeiten hat und sich an gelungenem Design erfreuen kann, wer zudem auf das Prestige des bereits erwähnten amerikanischen Herstellers und übergroßen Hubraum verzichten kann, für den sind die Schwestern eine gute Wahl. Welche der beiden? Das muß wohl oft das alte Kopf-oder-Zahl-Spiel entscheiden.

    Nachzulesen hier

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