Fahrbericht
Kawasaki VN 1500 Classic - Trittbrettfahrer
Aus bma 2/99
von Klaus Herder
Vor über 11 Jahren präsentierte Kawasaki mit der VN-15 den weltgrößten Serien-Zweizylinder. Über ein anerkennendes „Für einen Japaner nicht schlecht” kam der etwas zu barock geratene Chopper aber nie hinaus. Ab 1996 mutierte die VN-15 unter anderem dank üppiger Blech-Kotflügel, verschalter Gabel und Trittbrettern zum Cruiser namens VN 1500 Classic. Das Image der schwülstigen „Arme-Leute-Harley” konnte das technisch durchaus gut gemachte Dickschiff aber nicht ablegen.
Doch seit einem Jahr ist alles anders. Die Zeit der Peinlichkeit ist vorbei. Parallel zur überarbeiteten Basisversion stellte Kawasaki mit der VN 1500 Classic Tourer einen Cruiser auf dicke Alu-Gußräder, für den nicht nur Preis- und Technik-Argumente sprechen. Das Kawa-Cruiser-Flaggschiff ist auch in Sachen formaler Stimmigkeit und beim oft strapazierten „Charakter” so gelungen, daß es für viele Cruiser-Fans auf Dauer erste Wahl und nicht nur Übergangsgerät bis zur ersten Harley sein kann.
Die VN 1500 Classic Tourer ist ein grundehrliches Motorrad. Was nach Tank aussieht, ist auch ein Tank. Die Luftfilterelemente sitzen tatsächlich in den Behältnissen, die wie Luftfiltergehäuse geformt sind. Die Hinterradfederung versteckt sich nicht, da wird kein Starrahmen vorgegaukelt. Zwei konventionelle Federbeine sorgen sichtbar für Komfort. Ob Tankemblem, Scheinwerfergehäuse oder Tachokonsole - alles ist ungemein wertig und mit viel Liebe zum Detail gemacht.
Die äußeren Unterschiede zur Basis-VN sind offensichtlich: serienmäßige Koffer (Jethelm paßt rein, Integralhelm nicht), eine in der Höhe stufenlos um 70 Millimeter verstellbare Windschutzscheibe, ein fetteres Vorderradgummi (150er statt 130er), Trittbretter anstelle der Sozius-Fußrasten und Sturzbügel, die Koffer und Motorgehäuse bei Umfallern schützen sollen. Für einen deutlich kernigeren und ziemlich baßlastigen Sound sorgt die neue Auspuffanlage mit je einem Topf links und rechts. Ein paar Detail-Änderungen sind erst auf den zweiten Blick zu erkennen: Die Fahrer-Trittbretter wurden um 65 Millimeter zurückversetzt, die Schalter und Armaturen neu gestaltet und das Sitzpolster noch bequemer geformt. Scheinwerfer und Telegabel bekamen neue Abdeckungen und der Blinker eine automatische Rückstellung.
Ein paar Unterschiede gibt's auch unterm Blech: die Lichtmaschine des Classic Tourers liefert mehr Saft (588 statt 350 Watt) - der Aufrüstung zum rollenden Weihnachtsbaum oder zur Mobil-Disco steht also nichts im Weg. Die Rahmenunterzüge fielen im Durchmesser größer aus, der Radstand legte um 5 Millimeter zu und der Nachlauf wuchs von 123 auf rekordverdächtige 189 Millimeter - gelobt sei ein möglichst sturer Geradeauslauf.
Beim Herz der VN blieb alles beim alten. Die beiden Zylinder stehen wie jeher im Winkel von 50 Grad, für den Gaswechsel sorgen unverändert je eine obenliegende Nockenwelle und je vier über wartungsfreie Hydrostößel betätigte Ventile pro Zylinder, das Gemisch zünden weiterhin zwei Kerzen pro Kopf, und vor zerstörerischen Vibrationen bewahrt Motor und Besatzung eine Ausgleichswelle. Der flüssigkeitsgekühlte Motor ist immer noch sehr kurzhubig ausgelegt (102 mm Bohrung/90 mm Hub) und leistet unverändert 64 PS bei 4700 U/min.
Neu ist auch nicht der Kardan als Endantrieb, dafür aber das Fünfganggetriebe mit einer als ellenlanger Overdrive ausgelegten letzten Gangstufe. Neu ist auch das „K-TRIC-System”, eine Steuerung, die über einen Drosselklappensensor und daran angeschlossenem Microcomputer den Zündzeitpunkt regelt. Fürs grüne Gewissen sorgt neuerdings ein ungeregelter Katalysator samt Sekundärluftsystem. Umweltpolitisch etwas weniger korrekt ist allerdings, daß die VN zum Saufen neigt. Wer den vollgetankt üppige 354 Kilogramm wiegenden Brocken fliegen läßt, fackelt deutlich über sieben Liter Normalbenzin auf 100 Kilometern ab. Phlegmatische Naturen schaffen Werte zwischen fünf und sechs Litern. 16 Liter Tankinhalt liegen so oder so an der unteren Schmerzgrenze, die ins Tachogehäuse integrierte Tankuhr zeigt aber immerhin einigermaßen genau an.
Das Tagesgeschäft mit der VN klappt völlig problemlos. Zündschloß und Chokehebel sitzen links vorn unterm Tank - das ist zwar nicht besonders praktisch, muß bei Cruisern aber anscheinend so sein. Es hätte ja auch schlimmer kommen können, es gab bei anderen Fabrikaten schon Fälle von rechts hinten unten. Der E-Starter hat zumindest bei kaltem Motor keine Probleme, die Kurbelwelle in Wallung zu bringen. Bei heißgefahrenem Twin bedarf es aber ab und an eines zweiten oder dritten Startversuchs. Die Kupplungsbetätigung erfolgt hydraulisch und mit mäßiger Handkraft, das Einlegen der Gänge mit Nachdruck über eine Schaltwippe. Kupplung und Bremshebel lassen sich vierfach verstellen. Die Lebensäußerungen des Twins sind ein Genuß. Kehlig-kernig und trotzdem legal tönt es aus den Töpfen.
Rollt die Fuhre erst einmal, ist von der gewaltigen Masse nicht mehr viel zu spüren. Zumindest subjektiv schiebt der Dampfer ungemein flott voran - 112 Nm Drehmoment bei 3000 U/min liegen maximal an, ab 1500 bis über 4000 Touren stehen praktisch immer über 100 Nm zur Verfügung. Objektiv sind die Fahrleistungen dann allerdings nicht mehr ganz so prall. Knapp sechseinhalb Sekunden für den Sprint auf 100 und eine Vmax von rund 160 km/h machen klar, daß 64 PS mit maximal 534 Kilogramm Gesamtgewicht keine Wunder vollbringen können.
Doch die VN heißt nicht umsonst Tourer und nicht Heizer. Entspanntes Reisen und Rollen mit 120 oder 130 km/h ist mit ihr ein Genuß. Bis dahin geht's hinter der stabilen Scheibe nahezu zugfrei ab, der Geradeauslauf ist tadellos. Wenn die Tachonadel erstmal 140 km/h anzeigt, kommt etwas Bewegung ins Spiel. Nicht dramatisch, eher wie sanfter Seegang. Etwas ungemütlicher wird's dann allerdings, denn plötzlich zieht und weht es hinter der Scheibe. Also zurück zur Autobahn-Richtgeschwindigkeit, und alles wird wieder gut.
Der Sitzkomfort für Fahrer und Sozius ist hervorragend. Die Federelemente schlucken feinfühlig alles, was dem Cruiser unter die Räder kommt. Goldrichtig gedämpft geht es über Fahrbahnabsätze und Asphaltflicken. Kommen allerdings Längsrillen ins Spiel, rührt die Kawa auch schon deutlich unterhalb von 140 km/h. Der fette Vorderrad-Schlappen läuft den Fahrbahn-Verformungen nur allzu gerne nach. Kritisch wird das Fahrverhalten aber auch dann nicht, die VN bleibt jederzeit gutmütig und berechenbar. Das gilt sogar bei etwas zu flott angegangenen Landstraßenkurven. Die Trittbretter setzen zwar recht früh auf, doch die Dinger sind schließlich nicht umsonst klappbar - beim nächsten Mal geht's halt etwas ruhiger ums Eck.
Bei der Bremsanlage hat sich Kawasaki glücklicherweise nicht vom mäßigen Cruiser-Standard inspirieren lassen. Im Vorderrad der Classic Tourer tut eine ordentlich zupackende Doppelscheiben-Anlage Dienst. Das Ding ist für an Sporttourer-Bremsen gewöhnte Fahrer zwar keine Offenbarung, verzögert aber immer noch deutlich besser als fast die gesamte Cruiser-Konkurrenz - BMW einmal ausgenommen. Die Basis-VN muß übrigens weiterhin mit einer traurigen Solo-Scheibe leben.
Die Kawasaki VN 1500 Classic Tourer kostet 24.700 Mark. Das sind rund vier große Braune mehr, als für die Basis-VN verlangt werden. Der Mehrpreis ist allerdings mehr als gerechtfertigt. Besseres Aussehen, bessere Ausstattung, besseres Finish - die VN 1500 Classic Tourer ist nicht nur für japanische Verhältnisse gut gemacht, sondern spielt auch international ganz oben in der Cruiser-Liga.