Fahrbericht:
Kawasaki ZX-9R Mod. 2002
aus bma 03/03
von Klaus Herder
Knapp drei Sekunden für den Sprint von 0 auf 100 km/h sind gar nicht viel. Wenn fünf Sekunden später bereits Tempo 200 ansteht, ist das eigentlich auch gar nicht übel. Und echte 276 km/h Höchstgeschwindigkeit sind ja auch nicht so langsam. Trotzdem fällt die Kawasaki ZX-9R bei den Stammtischgesprächen so mancher Gebückter gnadenlos durch. „Weichgespült”, „technisch überholt” und „übergewichtig” lauten die Schlagworte. Und wenn es bei der Diskussion der vermeintlichen Knieschleifer-Elite ganz schlimm kommt, fallen die Stichworte „Windschutz”, „Sitzkomfort” und womöglich sogar „Tourentauglichkeit”. Das vernichtende Urteil über die Kawa lautet dann oftmals: „Sporttourer”.
Mit Platz 17 in der Verkaufshitparade 2002 ist die ZX-9R zwar immerhin die erfolgreichste Kawasaki, doch was nützt das, wenn zum Beispiel der Erzrivale Honda Fireblade satte zehn Plätze früher rangiert - ein Motorrad, das 1000 Euro mehr kostet, dafür mit dem Lenker schlägt, mit Lastwechselreaktionen zu kämpfen hat, mehr Sprit braucht und auch nicht schneller ist.
Es ist wohl die Magie der Zahlen, die über den Stammtisch-Erfolg eines Supersportlers entscheidet. Standesgemäße Fortbewegung in der Erwachsenenklasse scheint zur Zeit nur mit minimal 150 PS und maximal 200 Kilogramm Kampfgewicht möglich zu sein. Die ZX-9R leistet sich den unverzeihlichen Luxus, 7 PS weniger zu leisten und 16 Kilogramm mehr zu wiegen. Und dann das Schlimmste: Die ZX-9R zieht sich ihren Sprit über eine schnöde Vergaser-Batterie. Also mit Hilfe einer Technik, die rund 100 Jahre fleißig weiterentwickelt wurde und in Sachen Ansprechverhalten immer noch unübertroffen ist. Nein, ein moderner Supersportler hat gefälligst eine Einspritzanlage zu haben. Honda Fireblade, Suzuki GSX-R 1000 und und Yamaha R1 haben ja schließlich auch eine, ergo ist die ZX-9R ein technisch überholter Eisenhaufen. Dass die Kawa selbst mit U-Kat und Sekundärluft-System die Abgaswerte der Einspritzer erreicht oder sogar übertrifft, spielt dann doch wirklich keine Rolle.
Aber nun steht der vorsintflutliche Hobel nun schon mal da, also geht's zur Probefahrt - oder zunächst einmal zum Probesitzen: 820 Millimeter Sitzhöhe sind gar nicht so wenig, aber da der Fahrerplatz schön tailliert geschnitten ist, bekommen auch kurzbeinige Menschen recht locker sicheren Stand. Der ziemlich bauchige 19-Liter-Tank sieht brutal fett aus, ist dank goldrichtig geformter Einbuchtungen dann aber doch kein fieser Schenkelspreizer und ermöglicht einen sauberen Knieschluss. Die Lenkerhälften sind für Supersportler-Verhältnisse tatsächlich relativ weit oben montiert.
Die bei den von 1994 bis 2001 gebauten drei ZX-9R-Generationen montierten Verkleidungsstreben sind beim 2002er-Modell nicht mehr zu finden. Gut so, die Dinger sahen bastelig aus und störten den Blick aufs Cockpit. Das blieb formal unverändert, die Fans klassischer Rundinstrumente werden mit übersichtlichen Analoganzeigen bestens bedient. Das Vergaser-Thema hatten wir schon, was auch erklärt, warum am linken Lenker ein Choke-Hebel zu finden ist. Dessen korrekte Justierung zwischen „Dreht ungesund hoch” und „Geht gleich aus” mag anfangs etwas fummelig wirken, aber spätestens nach drei Touren hat man den Bogen raus.
Die Lebensäußerungen des flüssigkeitsgekühlten Reihenvierzylinders sind mächtig gedämpft, aber doch noch hörbar kernig. Halt typisch Kawa - der Sound war immer schon eine ganz große Stärke der Grünen. Das bei früheren Jahrgängen eher knochig und unpräzise zu schaltende Getriebe gibt sich beim 2002er-Modell mustergültig: Geschmeidig, auf kurzen Wegen und allzeit exakt lassen sich die sechs Schaltstufen sortieren. Die Gasannahme ist perfekt, weich und nahezu ruckfrei reagiert der 16-Ventiler auf Gasbefehle. Die mechanischen Geräusche bleiben im Hintergrund, das typische Kawa-Ansaugschnorcheln macht die Musik. Bis 6000 Touren ist die ZX-9R ein pflegeleichter Softie, der sich kinderleicht und mit besten Manieren durch den Stadtverkehr dirigieren lässt. Wenn dann aber am Ortsausgang kräftig an der Kordel gezogen wird und die Drehzahlmessernadel die 6000er-Marke überschreitet, wird aus dem freundlichen Dr. Jekyll der sehr böse Mr. Hyde.
Irgendwo muss bei der ZX-9R ein gewaltiger Nachbrenner versteckt sein, denn so brachial, wie die Kawa die nächsten 6000 Touren durch Drehzahlband eilt und voran stürmt, können eigentlich nicht nur 900 Kubik dahinterstecken. Die Motorcharakteristik der ZX-9R ist eine wunderbare Mischung aus der Drehfreude einer modernen Supersport-600er und dem bulligen Durchzug eines Bigbikes alter Schule.
So flott es auch vorangeht, so kommod ist der Fahrer untergebracht. Hinter der relativ hochgezogenen Verkleidungsscheibe gibt's tatsächlich ordentlichen Windschutz. Die über 300 Kilometer-Tankreichweite können auch mit forcierter Autobahn-Gangart nonstop zurückgelegt wer- den, ohne dass Verspannungen drohen. Störende Vibrationen kommen nicht durch, die Rückspiegel zeigen tatsächlich das rückwärtige Geschehen, und der Doppelscheinwerfer macht mit seiner Cinemascope-Flutlichtausleuchtung auch schnelle Nachtetappen zum Vergnügen. Die ZX-9R ist sauschnell und dabei saubequem - ist sie deshalb langweilig? Nein, ganz und gar nicht, denn abseits der Autobahn macht es mit der Kawa-Wuchtbrumme sogar noch mehr Spaß. Die Fahrwerksabstimmung ist wie gemacht für deutsche Landstraßen. Die Fuhre liegt satt und sicher in schnellen Kurven, und plötzlich auftauchende Frostaufbrüche bringen die Maschine auch nicht aus der Fassung. Renntraining-Junkies finden es vermutlich etwas zu soft, doch auch das sportlichste Supersportler-Leben findet eben nicht überwiegend in Oschersleben statt. Für die Ultraharten gibt es im Kawasaki-Programm ja schließlich auch die ZX-6R.
Wenn es darum ging, die Bewegungs- und Wärmeenergie umzuwandeln, hatte das 2000er-Modell der ZX-9R ab und an echte Probleme. Beim sehr harten Bremsen konnte es zum Gabelflattern kommen, im Extremfall sorgten die Resonanzschwingungen dafür, dass sich die ganze Maschine aufschaukelte. Kawasaki versuchte mit stumpferen Bremsbelägen nachzubessern, doch das war nur eine Krücke, die Ursachen lagen tiefer. Und zwar im Leichtmetall-Brückenrahmen, der deshalb fürs aktuelle Modell kräftig modellgepflegt wurde. Zusätzliche Verstärkungen im Lenkkopfbereich, eine zweite, vorverlegte Motorverschraubung sowie viele weitere Detailänderungen sorgen nun für absolute Ruhe im Gebälk, das Gabelflattern ist völlig verschwunden. Kritisches Lenkerschlagen war für die ZX-9R ohnehin nie ein Thema. Außerdem bekam die Schwinge einen stabilisierenden und wichtig aussehenden Oberzug spendiert, was den Unterschied zwischen 2000er- und 2002er-Modell am augenfälligsten macht. Überarbeitete Federelemente, größere Bremsscheiben und Vier- statt Sechskolben-Bremssättel sind weitere Modellpflegemaßnahmen.
Am Geradeauslauf gibt's bei der 900er nichts auszusetzen. Die Zielgenauigkeit und Berechenbarkeit sind ebenfalls tadellos. Die Maschine strahlt bei aller Handlichkeit eine ungemeine Souveränität aus - vielleicht sind gerade dafür das vermeintliche Übergewicht und die etwas moppelige Verpackung verantwortlich. Die ZX-9R vezeiht im Gegensatz zu manch anderem Supersportler auch mal den einen oder anderen Fahrfehler, sie benimmt sich fast schon gutmütig. Wer allerdings erst in sehr schräger Schräglage auf die Idee kommt, den Anker zu werfen, darf sich nicht über eine deutlich spürbare Aufstellneigung wundern. Die mit relativ wenig Handkraft zu bedienenden und toll dosierbaren Nissin- Stoppern sollten lieber vorm Abwinkeln zum Einsatz kommen.
Die Kawasaki ZX-9R kostet 11.595 Euro und ist damit deutlich günstiger als ihre Konkurrenz. Der bleibt die Kawa mit dem neuen Fahrwerk und dem „alten” Motor kräftig auf den Fersen, dem Vergaser-Oldie fährt so schnell keine Einspritz-Neuheit weg. Die in bester Kawa-Tradition etwas hemdsärmelige ZX-9R ist vielleicht nicht der beste Rennstrecken-Supersportler, doch dafür dürfte sie momentan der beste Alltags-Supersportler unter den Bigbikes sein. Ein super Sportler ist sie auf jeden Fall.