Fahrbericht
Kawasaki ZX-12 R
Aus bma 11/00
Von Klaus Herder
Blöde freiwillige Selbstbeschränkung. Mercedes-S-Klasse-Jagen macht einfach keinen Spaß mehr, seit es die Pkw-Hersteller und -Importeure bei 250 km/h gut sein lassen. Da hat man ein Motorrad mit 178 PS unterm Hintern - und keiner wehrt sich. Mit dem Kawasaki-Flaggschiff ZX-12R unterwegs zu sein, kann sehr schnell ziemlich langweilig werden. Zumindest auf bundesdeutschen Autobahnen.
250 km/h - bei dieser Geschwindigkeit liegen im sechsten Gang rund 9000 Umdrehungen an. Das ist die Maximaldrehzahl während der Einfahrzeit. Nach unerträglich langen 3200 Kilometern darf man dann endlich richtig Gas geben. Bei 10.500 U/min liefert der Reihenvierzylinder die besagte Höchstleistung, bei 11.700 U/min greift der Drehzahlbegrenzer materialschonend ein. Ein 60-Kilo-Jockey in enganliegender Lederkombi ist dann bei 18 Grad Celsius und absoluter Windstille je nach Messmethode mit 303 bis 308 km/h (Tacho 330) unterwegs. Übergewichtige bma -Redakteure schwächeln aus reinem Selbsterhaltungstrieb bereits bei Tacho 300, was echten 270 km/h entsprechen dürfte.
So, diese einleitenden Worte dürften reichen: Sollten Sie sich an dieser Stelle nämlich auf die Suche nach Papier, Bleistift und der Redaktions-Adresse machen, um als überzeugter NTV 650-Fahrer einen geharnischten Leserbrief zum Thema „Unverantwortliche Raserei” loszulassen, sparen Sie sich die Mühe. Sie haben nämlich Recht. Die ZX-12R ist völlig überflüssig. Genauso überflüssig wie eine mechanische Armbanduhr für mehrere 1000 Mark. Eine Quarzuhr für 19,95 Mark zeigt schließlich viel genauer an. Und dieses Motorrad ist mindestens genauso unnötig wie eine 10.000-Mark-Stereo-Anlage. Der 99-Mark-Ghettoblaster vom Aldi klingt doch auch nicht übel.
Dieses 26.890 Mark teure Motorrad ist ein Spielzeug für Menschen, denen allein die Gewissheit, das zur Zeit stärkste und schnellste Serienmotorrad zu besitzen, genug Befriedigung bietet. Technische Meilensteine werden immer ihre Liebhaber finden, das liegt in der Natur des Menschen. Und nun komme bitte niemand mit dem Argument des gefährdeten 18-jährigen Fahranfängers. 18-Jährige fahren sich im Normalfall im tiefergelegten Golf I oder mit einer ausgenudelten GSX-R 750 aus vierter Hand tot. ZX-12R-Käufer werden vermutlich deutlich über 30 Jahre alt sein, über ordentlich Fahrpraxis verfügen und allein schon aus familiären und/oder beruflichen Gründen etwas Besseres zu tun haben, als sich ausgerechnet mit einem japanischen Motorrad umzubringen.
So, das war unser kleiner Exkurs für alle Berufsbetroffenen, Besserwisser, Neidhammel und potenziellen Zeigefinger-Heber. Widmen wir uns wieder der größten aller Ninjas. Die Zwölfer ist keine Schnellschuss-Reaktion auf Suzukis Hayabusa. Ihre Entwicklung begann nämlich zur gleichen Zeit. Die Kawasaki-Techniker brauchten nur etwas länger. Kein Wunder, denn praktisch alles musste komplett neu entwickelt werden. Als Motor kam in guter Kawa-Tradition natürlich nur ein Reihenvierzylinder in Frage. Das Verhältnis von Bohrung und Hub entspricht dem der kleineren Ninja-Schwestern ZX-6R und ZX-9R: 83 mm Bohrung und 55,5 mm Arbeitsweg - das macht zusammen 1199 ccm Hubraum. Auf Laufbuchsen wurde verzichtet, die Gusskolben bewegen sich direkt in den galvanisch beschichteten Zylindern. Das sorgt für gute Wärmeableitung und vor allem für geringe Baubreite. Die Kurbelwelle konnte entsprechend leicht, kurz und stabil gehalten werden. Zwei obenliegende Nockenwellen, 16 Ventile, Tassenstößel, eine Ausgleichswelle - das ist alles klassischer Sportmotorenbau und wenig exotisch. Allerdings verbauten die Kawa-Techniker ein paar mehr Magnesiumdeckel als üblich, steckten die Zündspulen in die Kerzenstecker und fanden auch sonst ein paar ziemlich clevere Detaillösungen. Das zahlte sich aus, denn unterm Strich ist der ZX-12R-Motor satte zwölf Kilogramm leichter als der konstruktiv nicht unähnliche ZZ-R 1100-Motor. Für die Gemischaufbereitung des um 20 Grad nach vorn geneigt eingebauten Motors sorgt übrigens eine elektronisch geregelte Saugrohr-Ein- spritzanlage. Die Abgase entweichen über eine toll gemachte Vier-in-zwei-in-eins-Auspuffanlage aus Titan und Edelstahl. Einen ungeregelten Katalysator gibt's serienmäßig.
Ihr eigentliches Meisterwerk lieferten die Kawasaki-Techniker aber beim Rahmen ab. Wo bei fast allen anderen Sportlern breite Brücken-Konstruktionen den Motor umranken, übernimmt bei der ZX-12R ein über dem Motor platziertes Monocoque die tragende Funktion. Das spart Baubreite, reduziert damit die Stirnfläche und erhöht die aerodynamischen Qualitäten der ZX-12R. Wo bei anderen Maschinen der Tank sitzt, sorgt bei der großen Ninja ein aus Leichtmetallblechen zusammengeschweißter Hohlkörper für erhöhte Steifigkeit. Diese aus dem Rennsport stammende, im Serienbau aber erstmalig zum Einsatz kommende Konstruktion bietet Platz für die Kanäle des Ram-Air-Systems, für das Luftfiltergehäuse und für die tiefliegende Batterieaufnahme. Der 20-Liter-Tank liegt unterm Fahrersitz.
Gewichtsersparnis (2,5 Kilo gegenüber ZZ-R 1100) und ein schön tiefer Schwerpunkt sind nette Nebeneffekte der ungewöhnlichen Konstruktion. Die Aufnahmen von Upside-down-Gabel und Alu-schwinge bestehen aus konventionellen Gussteilen.
Wie es sich für ein Spitzenmodell gehört, kommen bei den Federelementen ordentliche Bauteile zum Einsatz. Gabel und Zentralfederbein sind jeweils voll einstellbar und geben dem Nachrüstmarkt kaum eine Chance. Die Grundabstimmung ist sportlich straff, dabei nicht unkomfortabel, Gabel und Federbein arbeiten perfekt gedämpft.
Vorn rollt die Kawa auf einem Gummi im klassenüblichen Format 120/70 ZR 17. Hinten muss es - vermutlich aus Imagegründen - unbedingt ein 200/50 ZR 17 sein. Das stört auf der Autobahn nicht weiter, rächt sich aber beim erstbesten Landstraßen-Gewusel. Wo auf der Bahn eben noch niemand eine Chance hatte - von der Suzuki Hayabusa mal abgesehen - lassen auf der Landstraße plötzlich beherzt bewegte 600er die ZX-12R ziemlich alt aussehen. Vollgetankt wiegt die Kawa trotz aller Leichtbau-Bemühungen knapp 250 Kilogramm. Die lassen sich nicht wegdiskutieren, wenn zügig umgelegt werden muss. Auf der nächsten längeren Geraden kann sie die frechen Mittelklasse-Sportler zwar wieder aufschnupfen, doch in der nächsten Kurve ist die Dicke wieder fällig. Die viel zu breite 200er-Walze an der Hinterhand dürfte dafür mitverantwortlich sein, dass Kurvenschwingen mit der ZX-12R zur echten Arbeit ausartet.
Die Bremsanlage trägt jedenfalls keine Schuld am etwas peinlichen Auftritt. Es muss zwar etwas herzhaft zugelangt werden, doch Dosierbarkeit und Wirkung der von Sechskolbenzangen in die Mangel genommenen Doppelscheibenbremse sind tadellos. Die hintere Soloscheibe lässt bei Bedarf das Gummi pfeifen, hält sich ansonsten aber stark zurück.
Das, was an der Ninja ZX-12R am meisten Spaß macht, ist - welch Überraschung - der Motor. Das Startverhalten ist kalt wie warm einwandfrei. Der Vierzylinder klingt zwar schon im Leerlauf ziemlich kernig und läuft Kawa-typisch etwas rauh, benimmt sich aber auch im dichten Innerorts-Verkehr äußerst gesittet. Die Kupplung flutscht butterweich, die Gänge lassen sich leicht und exakt einlegen, da muss kein sensibles Rennpferd gezügelt werden. Wenn dann die Zeit des Bummelns am Ortsausgangsschild vorbei ist, kommt der Tritt ins Kreuz aber umso heftiger. Egal, welcher Gang drin ist - das Ding geht brutal vorwärts. Die Gas-annahme wirkt anfangs etwas ruppig, bei entsprechender Gewöhnung findet man es nur noch klasse - kein Durchhänger, kein Zucken, kein Ruckeln, einfach nur Schub. In Zahlen: 0 auf 100 in 2,5 Sekunden, 0 auf 200 in 7 Sekunden. Die Durchzugswerte fallen entsprechend aus. Wenn die Fuhre rollt, muss eigentlich nie wieder geschaltet werden. Höchstens zum Tanken, also nach rund einer Stunde und 250 Kilometern.
Okay, 250 km/h als Dauertempo sind etwas unrealistisch, aber freie Autobahn vorausgesetzt, ist gemütliches Dahinrollen mit 220, 230 km/h überhaupt kein Problem. Die von Kawasaki-Flugzeugtechnikern unterstützten Motorrad-Ingenieure haben in Sachen Aerodynamik und Windschutz nämlich ganze Arbeit geleistet. Der dank relativ hoch montierter Lenkerstummel recht tourensportlich untergebrachte Fahrer sitzt hervorragend geschützt, sogar die Hände liegen einigermaßen im Windschatten. Für einen Mitfahrer ist theoretisch zwar ein Platz vorhanden, doch über die Qualitäten des Mini-Hochsitzes macht sich selbst Kawasaki keine Illusionen: Die Soziussitz-Abdeckung ist serienmäßig. Ein komplettes Mäusekino mit mäßig genauer Tankanzeige ist es ebenfalls. Abblend- und Fernlicht leuchten die Bahn sehr gut aus, und die etwas peinlich aussehenden Spiegel gewähren perfekte Rücksicht.
Die Kawasaki Ninja ZX-12R ist auf der Autobahn unschlagbar, auf Landstraßen manchmal etwas anstrengend und im Vergleich zur Hayabusa gnadenlos überteuert. Aber sie ist momentan das weltweit stärkste und (je nach Vergleichstest) vielleicht auch schnellste Serien- motorrad. Und sie wird es dank der blödsinnigen 300-km/h-Selbstbeschränkung vermutlich noch etwas länger bleiben. Sie ist eigentlich völlig überflüssig. Das macht sie so reizvoll.